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28. Februar 2010 | Kirsten Reimers für satt.org |
4401 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Hinter Türen und Toren gehen Kinder verloren In aller Frühe wird Lisa Nerz von einem höllischen Gepolter in der Wohnung über ihr geweckt. Der körpereigene Adrenalinalarm wuppte mich aus dem Bett und trieb mich in Jeans und Pullover, ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte. (...) Zwei Frauen vom Jugendamt haben sich Zutritt zur Wohnung der alleinerziehenden zweifachen Mutter Nina Habergeiß verschafft und wollen deren fünfjährigen Sohn Tobias mitnehmen, da der Verdacht besteht, dass das Kind vernachlässigt und misshandelt wird. Lisa Nerz greift ein und kann fürs Erste die Vertreter der Staatsmacht vertreiben. Doch weder die Mutter noch die dreizehnjährige Tochter danken ihr die Einmischung. Am gleichen Abend lernt Lisa Nerz die Familienrichterin Sonja Depper kennen und verabscheuen, und am kommenden Tag verschwindet der kleine Tobias – vom Jugendamt einfach aus dem Kindergarten abgeholt. Ist das möglich? Schwabenreporterin Lisa Nerz beginnt zu recherchieren. Sie stößt auf nahezu unkontrollierte Machtbefugnisse des Jugendamtes und zahlreiche blinde Flecken beim Thema Sorgerecht. Noch dazu ist plötzlich die Familienrichterin tot, und Nina Habergeiß scheint sich vor Verzweiflung über die Inobhutnahme ihres Sohnes das Leben genommen haben. Zu allem Überfluss verwandelt sich Lisas kopfgesteuerter Staatsanwalt in einen gurrenden, seelig lächelnden Trottel. Kinderwunsch und Kinderwahn, Vernachlässigung und Überforderung, Münchhausen-Stellvertetersyndrom und plötzlicher Kindstod, staatliche Einmischung und Willkür – glasklar und unerbittlich ist der Blick, den Christine Lehmann ist Familien und Fürsorgeeinrichtungen wirft. Und dabei kommt keiner gut weg, weder sind überforderte Mütter hilflose Opfer, noch Mitarbeiter vom Jugendamt selbstlose Helfer. Korruption und selbstgerechtes Gutmenschentum werden ebenso klar beschrieben wie Ohnmacht und unkontrollierte Amtsgewalt. Die eigentlichen Leidtragenden sind dabei die Kinder, denn sie stehen am untersten Ende der Machtverhältnisse. Ihr Leben ist von Gewalterfahrung geprägt: sei es in körperlicher oder psychischer Form, sei es von elterlicher oder staatlicher Seite. Sie wachsen auf in einer Welt, die ihnen wenig Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringt, die ihnen aus Desinteresse oder Unsicherheit keine Grenzen setzt und keine Verhaltensrichtlinien mitgibt – außer Gewalt. »Mit Teufelsg’walt« bietet keinen Betroffenheitsquark, sondern die präzise und schonungslose Schilderung von genau beobachteten Verhaltensweisen und Verhältnissen. Es ist der achte Fall für Christine Lehmanns unkonventionelle Ermittlerin Lisa Nerz, die – unabhängig, unerschrocken, penetrant – sich in keine Schublade quetschen lässt, die genau hinsieht, den Finger in die Wunde legt und nachbohrt, die nicht nur Verhältnisse und Beziehungen, Überzeugungen und Glaubensgebäude, Werte und Institutionen hinterfragt, sondern auch stets sich selbst. Es ist ein kraftvolles Buch. Mit seiner engverwobener dichten Sprache überrollt es einen ebenso mit Tempo wie mit Witz und lässt kein Ausweichen zu. Der Herbst war abgeräumt, der erste Schnee des Winters hatte sich in den Ackerfurchen und Gräben eingelagert. Rabenkrähen schwärmten. Am Flughafen zackten die Dächer der neuen Messe. Das Parkhaus querte wuchtig und weithin sichtbar die Autobahn nach München. Schmal nadelte der Fernsehturm am Horizont. Das ist stimmig, denn schließlich geht es in »Mit Teufelsg’walt« um Gewalt und Macht auf den unterschiedlichsten Ebenen und in den unterschiedlichsten Ausprägungen – überzeugend und konsequent bis zum schmerzhaft realistischen, unausweichlichen Ende.
Christine Lehmann: Mit Teufelsg’walt |
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