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20. Juni 2009 | Kirsten Reimers für satt.org |
2901 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Mord mit komplexen Ursachenwurzelwerk Es beginnt wie ein typischer Schwedenkrimi: Im hohen Nordosten Schwedens, in der Kleinstadt Pajala an der Grenze zu Finnland, wo ein gegen die Tür gelehnter Besen das Türschloss ersetzt, dort in der vermeintlich sicheren Idylle ist ein entsetzlicher Mord geschehen. Ein alter Mann wurde in seinem eigenen Bett mit einem Lachsspeer erstochen. Sehr blutig. Einen Teil der Leiche hat der Täter auf der Herdplatte in der Küche verschmoren lassen. Sehr eklig. Aus dem Süden, der Hauptstadt Stockholm, reist die Kriminalkommissarin Therese Fossnes an, um den Fall zu lösen – eine junge Großstädterin, die sich als Weltbürgerin ohne Wurzeln versteht, eine unabhängige Frau ohne beschwerende Bindungen. Nicht nur die Provinzialität macht ihr in Pajala zu schaffen. Besonders irritierend ist es für Fossnes, dass sie einen Dolmetscher braucht, um Verhöre zu führen. Natürlich können die Menschen hier Schwedisch sprechen – doch manche wollen nicht. Sie halten am Meänkieli, dem Tornedalfinnisch, dem lokalen finnischen Dialekt, fest. „Sano se meänkielelä“, unterbrach Esaias. Als Leser wird einem bald schon klar: Die Krimihandlung ist nur Aufhänger und Rahmen, um etwas anderes zu erzählen. Im Zentrum von Niemis Buch steht ein anderer Tod: der von Kultur und Sprache des Tornedalen.. Über Jahrhunderte gehörte das überwiegend von Finnen besiedelte Tal entlang des Flusses Torne älv zu Schweden. Doch im Jahr 1809 fiel das rechte Flussufer zusammen mit Finnland an Russland, eine Entscheidung des russischen Zaren nach dem russisch-schwedischen Krieg. Zurück blieb auf schwedischer Seite eine finnischsprechende Minderheit, isoliert von ihrer ursprünglichen Kultur. Da die Wurzeln des aktuellen Verbrechens bis in das 19. Jahrhundert reichen, ergänzt Niemi seine Krimihandlung durch Exkurse in die Linguistik, in die Geschichte Schwedens, er stellt Überlegungen an, wie anders das Schicksal der Tornedaler verlaufen wäre, wenn der Zar einen anderen Fluss als Grenze bestimmt hätte. Wir sind auch Zeuge, wie am 2. November 1888 der schwedische König Oscar II. beschließt, dass in den Schulen künftig ausschließlich Schwedisch als Unterrichtssprache zugelassen ist – zur Stärkung der nationalen Identität. Was folgt, ist das typische Schicksal einer Minderheitensprache in Europa. Die Entscheidungen auf Regierungsebene haben Konsequenzen bis in den Alltag, bis in die Psyche der Bewohner des Landes. Denn nun gibt es eine richtige und eine falsche Kultur. Die untergeordnete Minderheitenkultur wird von der Herrenkultur verfolgt und geächtet. Unterdrückung und Misshandlung sind die Folge – durch Lehrer, Beamte, Nachbarn. Die Minderheit passt sich an, ändert den finnischen Nachnamen in einen schwedischen, die Kinder lernen nicht die Muttersprache der Eltern, sondern Schwedisch, damit sie es später einmal besser haben, damit sie echte Schweden ohne Sprachbarriere werden können. Ein Riss tut sich auf zwischen den Generationen, der Sprache und Gebräuche umschließt. Eltern und Kinder können einander buchstäblich nicht mehr verstehen. Eine weitere Kluft entwickelt sich zwischen denen, die die alte Sprache erhalten wollen, und denen, die sie bekämpfen. Wie schon in „Populärmusik aus Vittula“ interessiert sich Mikael Niemi für die Frage der kulturellen Identität, das Leben in zwei Kulturen und die Konsequenzen für den Einzelnen daraus. Schließlich stammt er selbst von dort, aus Pajala, und hat wie die meisten Tornedaler seiner Generation Finnisch erst im zweiten Bildungsweg erlernt. In der Kommissarin Therese und ihrem Hauptverdächtigen Esaias stehen sich die Vertreter unterschiedlicher Konzepte gegenüber: Großstadt und Land, Wurzellosigkeit und Verbundenheit, Moderne und Tradition. Niemi entwirft eine Vision, wie sich Gegensätze und Unterschiede verbinden lassen, ohne dass ein Element sich dem anderen unterordnen muss. Und mit der mysteriösen Figur des Petterson erschafft er den ersten freien Tornedaler, der für die schwedische Bürokratie nicht zu erfassen ist, der in den Wäldern des Nordens archaisch, animalisch und gefährlich wirkt, sich aber im Süden gewandt, elegant und verführerisch unter den Großstädtern zu bewegen weiß. Der Mord an dem alten Mann, einem ehemaligen Zöllner und Lehrer, fungiert als roter Faden bis hin zu seiner überraschenden Aufklärung. Gleichzeitig stellt er die Verbindung her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den unterschiedlichen Sprachen, den Personen. Zusätzlich erlaubt dieser rote Faden Niemi, verschiedene Elemente mit der Krimihandlung zu verknüpfen: surreale Verlängerungen in den magischen Realismus, eine Liebesgeschichte, Rückblenden in das 19. Jahrhundert, Erläuterungen der Gebräuche des Tornedal, eine Sozialgeschichte der unterdrückten Minderheit. Auch eine typisch schwedische Kulturausprägung findet so einen Platz, denn der Auftakt der Krimihandlung erinnert stark an den typischen Mankell-Krimi: viel Blut und Innereien, ein Opfer, das sich bei genauerer Betrachtung als Ekel erweist, unter der glatten Oberfläche kaputte Familienstrukturen, pädophile Widerwärtigkeiten, Machtmissbrauch, Hass, Alkoholismus – so perfekt gesetzt, dass es schon wieder ironisch überzogen wirkt. Dieses komplexe Gebilde fasst Niemi in intensiven, sinnlichen Bildern, die Geräusche, Gerüche, Farben erlebbar machen. Wunderbar skurril, spannend, melancholisch, mit trockenem Witz und viel Liebe für das Tornedal.
Mikael Niemi: Der Mann, der starb wie ein Lachs |
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