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24. Mai 2010 | Kirsten Reimers für satt.org |
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4801 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Die Realität ist ein Flickenteppich
In seiner Heimat England ist Phil Rickman längst eine große Nummer. Der Radiomoderator hat schon mehrere Bücher veröffentlicht, unter dem Pseudonym Will Kingdom sogar ziemlich erfolgreiche Horrorromane. Seit letzem Sommer erscheint seine Merrily-Watkins-Reihe übersetzt bei Rowohlt. Auf Englisch gibt es bereits zehn Bände – Rickman hat die Reihe Ende der Neunziger begonnen –, doch Rowohlt startet zum Glück hübsch chronologisch. Inzwischen sind die ersten beiden Kriminalromane als Taschenbuch auf dem Markt: »Frucht der Sünde« und »Mittwinternacht«. Im Mai kommt der nächste Band: »Die fünfte Kirche«. Rickman wird zwar mitunter als »Stephen King des UK« gehandelt, aber das sollte einem nicht den Blick auf das verstellen, was in den wunderbaren Merrily-Watkins-Romanen vor sich geht. Das sind keine Horror- oder Gruselgeschichten, keine Slasherthriller, keine Hexenromane – eigentlich sind’s kaum Krimis, auch wenn es draufsteht. Wie der Autor im Grußwort »an seine deutschsprachigen Leser« in »Frucht der Sünde« sehr treffend schreibt, schafft er vielmehr eine »Romanwelt der Ambivalenz, der Unsicherheiten und Paranoia«. Seine Bücher spielen im Grenzbereich von Paranormalem und Neurotischem. Und das macht sie wirklich außerordentlich. Die sympathische Heldin der Reihe, die kettenrauchende Merrily Watkins, ist Pfarrerin der anglikanischen Kirche im Dörfchen Ledwardine in Herfordshire nahe der walisisch-englischen Grenze. Neben der Betreuung ihrer Kirchengemeinde hat sie noch ein zweites Amt übernommen: Sie ist die »Beraterin für spirituelle Grenzfragen« ihres Bistums – Exorzistin, wie das früher hieß. Aber »Beraterin für spirituelle Grenzfragen« trifft es ziemlich genau und umreißt die Dinge, mit denen Merrily konfrontiert wird: Visionen, die auch schlichte Träume sein können, Geräusche, Gerüche, Gefühle, Hautirritationen, die genauso gut Einbildung sein können wie Spuren, die ein »Ruheloser«, ein »Besucher« oder ein »Invasor« hinterlassen hat – metaphysische Wesen, Erscheinungen, Kräfte. Es kann sich ebenso um stressbedingte Überreaktionen wie hysterische Auswüchse handeln. Es gibt keine klare Antwort auf diese Fragen – und das ist eine der Stärken der Bücher. Es gibt kein Glaubenssystem, keine Weltdeutung, die hier die Vorherrschaft hätte und die »Wahrheit« brächte. Merrily ist zwar Pfarrerin, aber die Romane sind bei weitem nicht christlich, eigentlich nicht mal religiös. Merrilys Glaube an Gott ist nicht ungebrochen oder naiv: Sie zweifelt, sie flucht, und bei ihrer Amtseinführung kann sie partout nicht den Amtseid über die Lippen bekommen. Stattdessen erbricht sie sich vor Bischof und Kirchengemeinde. Zudem hat sie sich mit einer ganzen Reihe sehr weltlicher Phänomene zu befassen: Als eine der wenigen Pfarrerinnen und als erste Frau im Amt des Exorzisten wird sie (innerhalb wie außerhalb der Kirche) mit Sexismus und Vorurteilen konfrontiert. Ihr Organist, der sich »ein nettes kleines Pfarrerinnen-Püppchen mit schönen Beinen und schnuckeligen Titten« als Seelsorgerin für das Dorf gewünscht hat, steht nicht allein da, ist aber einer der wenigen, die aussprechen, was sie umtreibt. Und Merrilys Bischof – der neue, der in »Mittwinternacht« im Amt ist – beruft die junge Frau zur »Beraterin für spirituelle Grenzfragen«, um seinen Ruf als Erneuerer der Kirche zu untermauern. Sie wird so zum Spielball der Kirchenpolitik, denn es gibt auch einflussreiche Kreise, die wollen, dass sie in ihrem neuen Amt scheitert. Da entspannt es die Situation nicht gerade, dass Merrily erkennen muss, dass auch die Kirche von England nicht frei von Korruption und Machtgier ist. Aber auch in ihrem Privatleben muss sich Merrily mit einer Menge Dinge herumschlagen. Nach gescheiterter Ehe ist die stets am Rande der totalen Erschöpfung dahinhastende Pfarrerin alleinerziehend. Ihre fünfzehnjährige Tochter Jane – altersgemäß schwankend zwischen Verunsicherung, Selbstüberschätzung, Selbstgerechtigkeit und echter Warmherzigkeit – lehnt den Glauben der Mutter rigoros ab und fühlt sich – esoterisch, New-Age-mäßig – Naturgeistern verbunden. In »Frucht der Sünde« hat sie nach viel zu viel Cider ein Erweckungserlebnis, das ihr Leben vollkommen verändert. Außerdem ist da noch Laurence, »Lol«, Robinson, ehemals ein recht erfolgreicher Rockmusiker, der nach Drogenexzessen und diversen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken derart verunsichert ist, dass er gar nicht mehr weiß, worauf er vertrauen soll. Und es kommen Vertreter weiterer Glaubensrichtungen und Weltdeutungen hinzu: Psychoanalytiker, Wiccarianer, Satanisten ... All diese Überzeugungen stehen sich auf Augenhöhe gegenüber und bieten einander die Stirn. Mordfälle gibt es auch noch – zwar eher am Rande, aber dennoch wichtig. Obwohl sie eher beiläufig geklärt werden – Merrily wird von der Polizei als Beraterin hinzugezogen –, ist am Ende Täterschaft und Motiv weitestgehend geklärt. Zumindest in diesen Fällen lassen sich Fragen beantworten und Tatsachen finden – oder doch nicht? Der erste Band der Reihe, »Frucht der Sünde« (im Original deutlich stimmiger »The Wine of Angels«, von 1998), beginnt mit der Ankunft Merrilys in ihrer neuen Kirchengemeinde, in der das Leben weiß Gott – oder wer auch immer – nicht so beschaulich ist, wie es die junge Pfarrerin nach ihrer Anstellung als Hilfsgeistliche in einem heruntergekommenen Viertel in Liverpool erwartet hat. Die Ereignisse, die in diesem Buch geschildert werden, sind einer der Gründe, warum sich Merrily im zweiten Buch, in »Mittwinternacht« (»Midwinter oft he Spirit«, 1999), auf die Pläne ihres Bischofs einlässt, sich zur Beraterin für spirituelle Grenzfragen für die Diözese Hereford ausbilden zu lassen. Die Bücher leben nicht nur von dem Widerstreit der Glaubensrichtungen, sondern noch weit mehr von den höchst ein- und ausdruckvollen Personen. Sie sind kurios und skurril, aber nicht überzogen, sondern geprägt von einer leisen, tiefen Selbstironie. Das macht das Geschehen intelligent und doppelbödig, aber nie bedeutungsschwanger. Sehr britisch, sehr leichtfüßig, hochelegant geschrieben und voller Unwägbarkeiten. |
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