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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




18. Juli 2010
Kirsten Reimers
für satt.org

Mordsmäßig50

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Sesselreisen in Grenzregionen

Drei Krimis aus der Aufbau Verlagsgruppe: Alle drei führen in verschiedene Ecken der Welt und auf unterschiedliche Ebenen von Realität, stets aber in unsichere Randbezirke. Eines jedoch eint sie: das Ambulatorium. Kaum noch gebräuchlich, findet sich dieser Begriff in allen dreien. Doch das nur am Rande.

  Taavi Soininvaara: Der Finne
Taavi Soininvaara:
Der Finne

Aus dem Finnischen
von Peter Uhlmann
Aufbau Verlag 2009
geb., 398 S., 19,95 Euro
» Aufbau Verlag
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Taavi Soininvaara: »Der Finne«

In Finnland ist Soininvaara eine große Nummer in der Krimilandschaft. Sein »Finnisches Requiem« wurde zum besten finnischen Kriminalroman gekürt, mehrere seiner Bücher wurde verfilmt. Auf Deutsch sind bislang sieben Krimis von Soininvaara erschienen. Der aktuellste trägt den etwas unspezifischen Titel »Der Finne« (im Original: »Marsalkan miekka«). In ihm schickt der Autor seinen Serienhelden Arto Ratamo, Ermittler bei der Sicherheitspolizei, gemeinsam mit einem Historiker und einer Wanderführerin auf die Suche nach einem historischen Dokument, genannt »Das Schwert des Marschalls«. Dieses Manuskript ist der Schlüssel für die »Unabhängigkeit Finnlands heute und in aller Zukunft« (jaha!) und ist der Grund, warum Finnland nicht komplett vom mächtigen Nachbarn Russland geschluckt wurde. Klar, dass mehrere Parteien ein Interesse haben, an das Buch heranzukommen. Neben dem Trio ist auch der russische Geheimdienst hinter dem Buch her, und die russische Kirche hat ein ganz eigenes Interesse an dem Dokument.

Und so hetzen Ermittler Arto, Historiker Eerik und Fremdenführerin Taru von Hinweis zu Hinweis, in ihrem Nacken stets der heiße Atem der Verfolger, zu denen sich auch ein skrupelloser Auftragskiller gesellt. Es steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Existenz des finnischen Staats und der russischen Regierung.

Also – zumindest theoretisch. Denn tatsächlich ist diese Rätselralley in das Grenzgebiet zwischen Finnland und Russland und wieder zurück, an historische Stätten Finnlands und in seine Geschichte, durch Missetaten der russischen Regierung gegen ihre Bevölkerung total langweilig. Zweidimensionale Figuren, hölzerne Dialoge, typisch Skandinavienkrimi-mäßige Persönlichkeitsprobleme, vollkommene Humorlosigkeit, steife Bierernstigkeit, Gefühlsumschwünge im Sekundentakt auf Knopfdruck und eine etwas verworrene Handlung, die aber eigentlich die immergleiche Schleife fährt, machen das Buch nicht gerade zu einem Lesegenuss. Die ziemlich ungelenke Übersetzung tut ein Übriges hinzu, sodass man das Buch gern wieder beiseite legt.

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  Eliot Pattison: Der tibetische Verräter
Eliot Pattison:
Der tibetische Verräter

Aus dem Amerikanischen
von Edgar Rai
Rütten & Loening 2009
geb., 358 S., 19,95 Euro
» Aufbau Verlag
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Eliot Pattison: »Der tibetische Verräter«

Ganz anders verhält es sich mit Eliot Pattisons sechsten Band um seinen chinesischen Ex-Ermittler Shan. In China in Ungnade gefallen, lebt Shan nach Jahren im Gulag heute illegal in Tibet. Von den Chinesen verachtet, von den Tibetern als Teil der feindlichen Besatzer äußerst misstrauisch beäugt, schlägt er sich mit niederen Jobs durch. Im aktuellen Buch – »Der tibetische Verräter«, im Original »The Lord of Death« (2009) – hat er in den Bergen Tibets Arbeit gefunden bei einem Geschäftsmann, der unter anderem Ausrüstungen für Kletterexpeditionen verkauft. Shan ist in diese Gegend gekommen, weil sein Sohn hier in einem berüchtigten Lager interniert wurde, das auch als »Yeti-Fabrik« bekannt ist: eine psychiatrische Anstalt, in der mit den Insassen experimentiert wird; wem die Flucht gelingt, stolpert meist ziellos durch die Berge, »nackt, im Schnee, mit den geistigen Fähigkeiten von Affen«.

Als ganz in der Nähe ein Attentat auf die chinesische Tourismusministerin verübt wird, ist Shan als einer der Ersten zur Stelle. Das macht ihn den chinesischen Behörden verdächtig: Er wird verhaftet, gefoltert und schließlich wieder freigelassen. Stattdessen ist nun Oberst Tan ins Visier der Polizei geraten – und er ist der Einzige, der Shan helfen kann, seinen Sohn zu retten. Also beginnt Shan zu ermitteln, um im Gegenzug für Tans Freiheit das Leben seines Sohnes zu erhandeln.

Die Suche nach Tätern und Hintergründen führt zurück in die Zeit der Besetzung Tibets durch China, der Verheerungen durch Maos Rote Garden während der chinesischen Kulturrevolution und der tibetischen Wiederstandsarmee Vier Flüsse, sechs Gebirge, deren letzte Überbleibsel erst 1971 die Waffen niederlegten. Aber auch die Gegenwart bietet Sprengstoff: die Bergsteigerindustrie, die zwar Geld ins Land bringt, die aber auch die heiligen Berge vermüllt und profanisiert, die allgegenwärtige Bespitzelung und grausame Unterdrückung durch die Besatzer, die Zerstörung der tibetischen Kultur.

Es ist eindeutig, wo Pattisons Sympathien liegen. Und das könnte zu einem fürchterlich bedrückenden, gutmenschelnden und anklagenden Geschreibsel führen. Aber Pattison hütet sich vor einfachen Konstruktionen. Und er vermeidet jede Schwarzweiß-Zeichnung und folkloristische Exotisierung. Stattdessen hat er mit seiner Hauptfigur einen Außenseiter geschaffen, der einen Blick unten auf eine unvertraute, aber nicht vollkommen fremde Kultur wirft, die eine andere Weltinterpretation bietet. Mit Rationalität ist das nicht immer zu fassen. So ist die Handlung nicht immer leicht nachzuvollziehen, weil sie komplex und mehrbödig ist und nicht immer zwingend linear, sondern in Kreisen und Schleifen, in Gleichgewichten und Spiralen verläuft.

Pattison schildert das Tibet der Gegenwart zwischen Tradition und Moderne, zwischen Fremdbestimmung und Selbstbehauptung. Wie der Autor im Nachwort seines Buches sagt, habe er in allen seinen Romanen »besonderes Augenmerk darauf gelegt, das politische und soziale Elend der Tibeter nicht zu überzeichnen«, dennoch sind die Lebensumstände erschreckend. Trotzdem schafft es Pattison, seinen Romanen eine Ruhe zu geben, die beeindruckt. Und einen zarten, untergründigen Witz, der die Absurditäten, die sich aus diesem Leben ergeben, bestechend einfängt.

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  Fred Vargas: Der verbotene Ort
Fred Vargas:
Der verbotene Ort

Aus dem Französischen
von Waltraud Schwarze
Aufbau Verlag 2009
geb., 423 S., 19,95 Euro
» Aufbau Verlag
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Fred Vargas: »Der verbotene Ort«

Gleich mehrere und dabei völlig unterschiedliche Grenzregionen berührt Fred Vargas’ Roman »Der verbotene Ort« (»Un lieu incertain«, 2008), der im Frühling 2009 bei Aufbau erschienen ist. 17 Schuhe, die vor dem Londoner Friedhof Highgate stehen, und ein bemerkenswert schauriger Mord, bei dem das Opfer in zahllose Einzelteile zerrieben, zerrissen und zerquetscht wurde, führen Kommissar Adamsberg, den intuitiven Wolkenschaufler, in ein kleines Dorf in Serbien. Dort gelangt er an den »verbotenen Ort«: das Grab des Untoten Peter Plogojowitz. Den hat es tatsächlich gegeben – nicht oder vermutlich doch gestorben 1725 –, ebenso wie Arnold Paole, der aus der gleichen Gegend stammt – und 1732 vielleicht gestorben ist.

Diese beiden dokumentierten Fälle gelten als zwei der bekanntesten Beispiele von Vampirismus oder zumindest dem Glauben daran. Vargas verbindet und vermischt sie mit vielen anderen phantastischen Dingen – unter anderem einem Mann, der einen Schrank gegessen hat, und einem Mann, der das Sofa des Kammerdieners von Immanuel Kant besitzt – zu einem wunderbar versponnenen Krimi, der letztlich aber tatsächlich im Rationalen wurzelt. Das macht sie in ihrer bezaubernden Erzählweise, die Realitäten, Mythen, Irrationales und Klischees unbekümmert unterläuft.