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18. Februar 2009 | Kirsten Reimers für satt.org |
2101 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 „Gute Kriminalliteratur hat zu schmutzen, „Kriminalliteratur ist die Literatur, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird“, stellt Thomas Wörtche gleich zu Beginn seines Buches „Das Mörderische neben dem Leben“ fest. Trotzdem gehört Kriminalliteratur zu der Literatur, die am wenigsten ernst genommen wird – als Literatur. Die Literaturwissenschaft begegnet dem Krimi bis heute mit Skepsis; immer wieder sind Krimibesprechungen aus diesem Lager wirklich amüsant: Mit Erstaunen wird dort ein ums andere Mal konstatiert, dass das tatsächlich Geschriebene ganz anders ist als die Theorie! Jeder Krimi ein Regelbruch! Das überfordert die Literaturwissenschaft, für die der Krimi in all seinen Subformen zumeist etwas Starres zu sein hat. Außerdem gibt es natürlich noch die Kritikerschar, die sich an eine breite Leserschaft wendet. Sie ist zumeist etwas flexibler und geht mehr vom gerade gelesenen Buch als von theoretischen Über- oder Unterbauten aus. Aber auch in diesen Kreisen ist der Umgang mit Kriminalliteratur eher nebensächlich. Krimis werden meist nur danach beurteilt, ob sie unterhaltsam und spannend sind. Wie schade! Da steckt doch sehr viel mehr drin. Zum Glück gibt es Thomas Wörtche, der – belesen, scharfsichtig, eloquent – sich schon seit Jahren, Jahrzehnten mit Kriminalliteratur als Literatur beschäftigt – nicht nur, aber auch und viel. „Das Mörderische neben dem Leben“ vereint erstmals veröffentlichte wie unveröffentlichte Aufsätze, Artikel, Vorträge aus rund fünfzehn Jahren, dazu kommen Texte, die extra für dieses Buch verfasst wurden. Thomas Wörtche geht nicht davon aus, definieren zu können, was ein Krimi ist und worin der Unterschied zum Nicht-Krimi liegt: „Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die eine Form‘. Das ist ein Missverständnis.“ Dadurch bleibt er offen für die unterschiedlichsten Spielformen, für Entwicklungen und Untertöne. Es geht in den Beiträgen zum Beispiel um den oft unterschätzen Eric Ambler, um den kategoriensprengenden George Simenon, um Chester Himes, seine unterschiedlichen Schreibrichtungen sowie deren Wahrnehmung, um Patricia Highmiths Mr. Ripley. Es gibt Überlegungen zum Verhältnis des Mörderischen zum Komischen – nicht zu verwechseln mit dem Humorigen –, zur Universalität das Konzeptes Krimi, das weltweit relativ problemlos verstanden wird, zum Unterschied von Krimi und Kriminalliteratur, zu den Beziehungen von Kriminalliteratur und Science Fiction, zum Zusammenhang von Gewalt und Musik. Außerdem gibt es einen Text zur Entstehung und Konzeption der Reihe metro im Unionsverlag, deren Herausgeber Thomas Wörtche bis 2007 war, TWs seltsame Rankings und einen Beitrag zu der verstörenden Ästhetik des argentinischen Zeichners Alberto Breccio. Wörtches zugrunde liegende Überzeugung ist, dass die überall präsente, überall erfahrbare Gewalt – und sei es nur in ihrer medialen Vermittlung – ihren Widerhall im Kriminalroman findet. Gewalt und Verbrechen sind die Generalthemen der Kriminalliteratur – und zwar als soziale Interaktion zwischen Menschen. Auf diese Weise ist Kriminalliteratur ein Mittel zur Gesellschaftsanalyse und zur Kommunikation über Gesellschaft. Damit dient der Krimi auch zur Einübung eines nicht-naiven Denkens: „[...] weil für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, das Bewusstsein dafür nicht ganz unerheblich ist, dass Gewalt und Verbrechen konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens sind.“ „Kriminalliteratur verdoppelt nicht einfach Realitäten, indem sie versucht, möglichst einfach abzubilden; Kriminalliteratur versucht vielmehr, möglichst viele Dimensionen und Facetten von Realität zu artikulieren. [...] Das Mitdenken von Gesellschaft bewahrt Wörtche vor Dogmatik. Und ermöglicht – neben der Freude an den intelligenten Beiträgen – das Beste dieses Buches: Die Aufsätze, Artikel, Vorträge regen zum Nachdenken, zum Hinterhergrübeln, zum begeisterten Zustimmen (Endlich sagt das mal jemand!) und zum Widersprechen an. Sie sind Reibungsflächen. Das schärft die eigene Wahrnehmung und lädt ein, die eigenen Kategorien und Wertmaßstäbe mal wieder durchzumustern, auszuschütteln, neu zu sortieren. Allein störend ist die Abwesenheit von Frauen als Autorinnen von Kriminalliteratur. Zwar werden Liza Cody oder Pieke Biermann am Rande erwähnt, Sara Paretsky kaum gestreift, natürlich auch Highsmith genannt (eher ambivalent) – aber es gibt doch deutlich mehr Frauen, die gute Kriminalromane schreiben, in denen Realität und Gesellschaft eine Rolle spielen. Ein blinder Fleck? Auf jeden Fall ein Katalysator zum Darüber-hinaus-Denken.
Thomas Wörtche: |
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