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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




8. September 2009
Kirsten Reimers
für satt.org

Mordsmäßig36

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Die wahren Regeln

Pete Dexter: Paris Trout

Weil ihm der junge Schwarze Henry Ray Boxer Geld schuldet, sucht Paris Trout dessen Familie auf und schießt mehrfach auf sie. Henry Rays Mutter wird schwer verletzt, die vierzehnjährige Rose, die bei der Familie lebt, stirbt. Für Paris Trout keine große Sache. Er ist Geschäftsmann, die Schulden waren rechtsmäßig, wie er immer wieder beteuert. Er hat nur seine Interessen verteidigt. Dass die beiden Frauen in seine Schusslinie gerieten, dafür kann er nichts: „Wenn sie niedergeschossen wurden, dann waren sie selbst schuld. Genau wie man ja auch nicht den Ingenieur verurteilen würde, wenn sie vor einen Zug gesprungen wären.“

In dem Südstaatenörtchen Cotton Point, in dem Paris Trout seinen Gemischtwarenladen führt, ist das im Grunde auch kein großer Skandal. Zwar weiß man auch hier: „Die Gesetzesvorschriften bezüglich Mordes unterscheiden in diesem Staat nicht zwischen den Rassen.“ Wie Staatsanwalt Townes beharrt: „Vor dem Gesetz sind alle Arten gleich.“ Doch Paris Trout hält ihm entgegen, wie es tatsächlich ist: „Das sind nicht die wahren Regeln, und das wissen Sie genau.“

Der Roman spielt Anfang der fünfziger Jahre in den USA. Senator McCarthy veranstaltet innerhalb der Gesellschaft seine Hexenjagd nach „Kommunisten“, nach außen führen die USA einen erbarmungslosen Krieg gegen Korea. Ebenso brutal und von Verachtung geprägt sind die Verhältnisse im Kleinen. In Cotton Point, das stolz seine Gründung vor hundertfünfzig Jahren durch einen Sklavenhändler feiert, gehören Rassenhass und Gewalt gegen Schwächere zum Alltag. Ein Menschenleben zählt hier nicht viel. Weiße misshandeln Schwarze, Männer ihre Frauen, Eltern ihre Kinder. Aber natürlich nicht offen, sondern hübsch verborgen hinter der properen Fassade der Wohlanständigkeit. Man sollte sich halt nicht erwischen lassen, wenn man Schwarze in ihrem eigenen Haus zusammenschießt.

Doch Paris Trout ist anders als die Bürger der weißen Mittel- und Oberschicht. Wie sein Anwalt Harry Seagraves (verheiratet, hat aber eine Affäre mit Trouts Frau) feststellt: „Selbst wenn wir alle auf derselben Straße fahren – Paris Trout hat keine Bremse.“ Für den Geschäftsmann haben Konventionen keine Bedeutung. Er exerziert offen, was die ehrbaren Bewohner von Cotton Point nur im Geheimen tun und denken. Trout verkörpert einen unbedingten Individualismus mit ausgeprägter Zweckrationalität. Er sorgt für sich selbst, die Hilfe des Staates hat er nie in Anspruch genommen – darum gibt er dem Staat im Gegenzug ebenfalls nichts: Trout zahlt keine Steuern und negiert die Autorität von Behörden. Er richtet sich nur nach seinem eigenen Gesetz. Trout ist Waffennarr und Einzelgänger – in früheren Zeiten wäre er ein Held gewesen. Er steht für die Werte der wehrhaften US-Nation, und er lebt sie in aller Konsequenz aus. So macht er die Kehrseite der Medaille sichtbar: Negation und Zerstörung der Gemeinschaft.

„Paris Trout hatte etwas an sich, das die Dinge weiter trieb, als sie eigentlich sollten“, stellt sein Rechtsanwalt fest. Der Einzelgänger ist wie ein schwarzes Loch, das alles Licht um sich herum verschlingt, ein tollwütiges Tier, das beißt und infiziert, wer ihm nah kommt. Allein seine Frau wagt es, sich gegen ihn zu stellen. Ihr gelingt es, Abstand zu Trout zu wahren durch die einzige Drohung, die er ernst nimmt: der Ankündigung ihn zu vergiften, wenn er nicht aus dem gemeinsamen Haus auszieht. Gegen Feinde von außen weiß Trout sich zu wehren – Angst macht ihm, was ihn von innen zerstören kann. Als Hanna Trout die Scheidung einreicht, wird der Konflikt auf eine neue Stufe gehoben. Denn sie beauftragt den jungen Rechtsanwalt Carl Bonner. Der Sohn des örtlichen Pastors war in seiner Jugend der jüngste Eagle Scout in der Geschichte des Staates, stellte in der Schule ein Vorbild für seine Mitschüler dar. Bonner lebt nach klaren Prinzipien, er strebt nach unbedingter Gerechtigkeit. Ein etwas naiver junger Mann, der beseelt und leidenschaftlich für das Gute kämpft (jemand, der so grundgut ist, darf keinen Sex haben, darum ist seine Frau frustriert und wendet sich dem Alkohol zu). Bonner ist die Antithese zu Trout. Eine Auseinandersetzung zwischen ihnen kann nur in die Katastrophe führen.

„Paris Trout“ (so auch der Originaltitel) von Pete Dexter ist ein gewaltiges, verstörendes Sittengemälde der US-Gesellschaft der frühen fünfziger Jahre. Dunkel, ätzend, beängstigend und bezwingend. Geschrieben aus unterschiedlichen Perspektiven in einer präzisen Lakonie, seziert der Autor jede Figur gnadenlos, ohne zu psychologisieren.

Pete Dexter ist freier Schriftsteller und gilt als einer der bedeutendsten Gesellschaftschronisten sowie profiliertesten Drehbuchautoren der USA. Die Originalausgabe von „Paris Trout“ erschien bereits 1988 und wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet. 1991 wurde das Buch unter dem Titel „Paris Trout“ mit Dennis Hopper, Barbara Hershey und Ed Harris verfilmt. In Deutschland lief der Film als „Tollwütig“. Unter diesem Titel war das Buch auch bereits 1989 auf Deutsch erschienen, es blieb jedoch lange Zeit vergriffen. Dank des wunderbaren Verlags Liebeskind liegt es nun in neuer und hervorragender Übersetzung von Jürgen Bürger ungekürzt vor.



Pete Dexter: Paris Trout
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Liebeskind 2008
geb., 416 Seiten, 22 Euro
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