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4. September 2017 | Kirsten Reimers für satt.org |
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7501 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Die Monsterfabrik
Hamburg brodelt. Drückende Sommerhitze lastet auf der Stadt, als vor einem bekannten Zeitschriftenverlagshaus eines Morgens ein Tierkäfig steht. Darin: der Chef der Personalabteilung des Unternehmens; nackt, sediert und übersät mit Foltermalen. Wenige Tage später das gleiche Bild: ein Käfig mit einem Manager des Verlagshauses, entführt, gequält, ausgestellt wie ein Tier. Ein drittes Opfer scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Zum siebten Mal schickt Simone Buchholz ihre Staatsanwältin Chastity Riley los, um in der Hansestadt für Gerechtigkeit zu sorgen. Eigentlich, so die Autorin, schreibt sie eher Western als Krimis: Mit dem Hafen hat Hamburg eine offene Flanke, die den Einbruch des Verbrechens in die Stadt ermöglicht – und ein Trupp von zerrupften Antihelden stellt sich dem entgegen, um die Stadt zu verteidigen. Vorneweg Chastity Riley, Tochter einer hessischen Hausfrau und eines US-amerikanischen Offiziers, groß, knochig, ungeschminkt, immer etwas zerzaust. Riley ist geprägt von Bindungsangst und großem Misstrauen in Institutionen, nicht zuletzt in ihren Arbeitgeber, die Staatsanwaltschaft, und zwar spätestens seit sie ihren Chef der Korruption überführt hat. Seitdem ist sie beruflich kaltgestellt. Dass sie zu diesem Fall hinzugezogen wird, kann entweder bedeuten, dass der Fall politisch brisant ist und die Stadt ihre besten, unbestechlichsten Kämpfer für Gerechtigkeit losschickt – oder dass der Fall politisch so brisant ist, dass man lieber keine Ergebnisse sehen will. Riley vermutet Letzteres. Zunächst jedoch sieht alles danach aus, als würde es sich um eine private Rachegeschichte handeln: Vergeltung für Quälereien während der gemeinsamen Internatszeit. Was erst einmal irritiert. Simone Buchholz hat in ihren letzten Krimis – Western – Verbrechen stets in der Verschränkung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität lokalisiert, besonders seit sie mit ihren Romanen zum Suhrkamp Verlag gewechselt ist. Und nun also eine Privatfehde? Etwas Kleingekochtes? Doch während man noch vor sich hinmurrt, legt die Autorin erst richtig los: Was anfangs so abgezirkelt privat daherkommt, entpuppt sich als Anklage gegen Ungerechtigkeit, Egoismus, Wohlstandsverwahrlosung, ungebremste Profitmaximierung auf Kosten Schwächerer. Als Auflehnung gegen die, die dank der richtigen Familie und der richtigen Netzwerke mit Verbrechen und Unmenschlichkeit davonkommen. Und wenn man dann denkt: Okay, verstanden, die Welt ist schlecht, Gut gegen Böse, wird klar: So einfach ist es nun bei weitem nicht. Die Wut, die hier gärt, entspringt Neid und Egoismus. Opfer, Täter – sie unterscheiden sich nicht. Aus der Rachegeschichte wird eine ungeschminkte Gegenwartsanalyse, ein Blick in die Tiefen einer Gesellschaft, die ihre Werte von innen her aushöhlt, da Übervorteilung, Selbstgerechtigkeit und Egozentrik dominieren. »Das ist doch alles eine einzige Monsterfabrik«, bricht es an einer Stelle aus Riley heraus. »Die Kinder von gestern sind die Arschlöcher von heute, und die Kinder von heute sind die Arschlöcher von morgen, und die Kinder von morgen …« Nicht nur der gesellschaftliche, auch der Zusammenhalt in Rileys Truppe bröckelt: Was vorher so verlässlich schien, hat jede Stabilität verloren. Simone Buchholz schildert dies stilsicher in gewohnt eigenwilligen Bildern. Mit »Beton Rouge« legt sie ein wütendes Buch vor, bleibt in ihrer Wut jedoch differenziert. Ihr Roman will keine Antworten vorlegen, weiß keine Auswege – sicher ist nur, dies alles kann kein gutes Ende nehmen. Kann es überhaupt ein Ende geben? Hamburg brodelt. Und nicht nur Hamburg.
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