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19. September 2010 | Kirsten Reimers für satt.org |
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5301 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Die Konstruktion von Wahrheit
Wie wichtig ist die Person des Autors für das Verständnis seines Werks? Ende der sechziger Jahre proklamierte Roland Barthes den Tod des Autors: Literatur steht für sich, der Autor, seine Biographie und seine Absichten sind zweitrangig. Nur wenig später strahlte – zumindest in Louise Welsh’s Roman »Das Alphabet der Knochen« (im Original »Naming the Bones«, 2010) – der Dichter Archie Lunan kurz und kräftig am Poetenhimmel auf. Dr. Murray Watson, Literaturdozent an der Uni Glasgow, ist seit seiner Jugend fasziniert von diesem Lyriker, über den nur wenig bekannt ist – außer dass er in seinem kurzen, heftigen, von Drogen und Alkohol geprägten Leben einen Gedichtband veröffentlichte und wenig später mit einer kleinen lecken Jolle auf die stürmische Nordsee hinaus segelte. Für seine geplante Biografie des Dichters kann Dr. Watson nur auf wenige Dokumente zurückgreifen, deshalb beginnt er, mit Zeitzeugen und früheren Freunden Lunans zu sprechen. Davon gibt es in seiner Umgebung weitaus mehr, als er zuvor vermutet hätte. Doch näher an seinen Forschungsgegenstand bringt ihn dies nicht, denn seine Gesprächspartner schönen die Vergangenheit, sparen Dinge aus, interpretieren ihre eigene Rolle damals um. Damals, das sind die rebellisch-psychedelischen Tage Anfang der siebziger Jahre, als die Neugestaltung der Welt dank Literatur, Alkohol, bewusstseinserweiternden Drogen, New Age und Okkultismus kurz bevorzustehen schien. Doch selbst wenn Murray sich dicht auf Archie Lunans Spuren wähnt, entzieht sich der ins Dunkel das Ungreifbaren, nur gespiegelt durch die Erinnerungen anderer, die mehr über sich selbst als über den Gesprächsgegenstand aussagen. Den treffendsten Kommentar gibt ein Kater, der völlig zufällig den gleichen Namen trägt: »Archie, der Kater, erhob sich auf Murrays Schoß, reckte den Schwanz in die Höhe und bot eine Frontalansicht des winzigen Arschlochs in der Mitte seines schlanken Hinterteils.« Statt über Lunan erfährt Murray eine ganze Menge äußerst Verstörendes über andere Menschen und sich, was ihm lieber verborgen geblieben wäre. Louise Welsh beherrscht es perfekt, mit jeder Antwort weitere Fragen aufzuwerfen. Dadurch entwickelt sich ein dunkler Sog, der tief ins Ungewisse führt. Welsh ist eine Meisterin des Vagen und Opaken. Wahrheit? Eindeutigkeit? Überschätzt und eh unmöglich, denn Erinnern und Erzählen bedeuten neu konstruieren, die Vergangenheit wird im Heute erschaffen, und Fakten bilden kaum mehr als einen Webrahmen, in dem sich die Netze des Damals immer wieder neu spinnen lassen. Oder um es mit Barthes (und Foucault) zu sagen: Wirklichkeit entsteht im Diskurs. Welsh mischt in ihrem vierten Buch höchst souverän Elemente des Campusromans, des Krimis und der Künstlernovelle. Die Fragen, wie Vergangenheit (re-)konstruiert wird und welche Bedeutung die Person des Künstlers für die Kunst hat, spiegeln sich bis in die Nebenhandlungen hinein. Das ist wirklich gut geformt, intelligent, spannend und ungeheuer dicht. |
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