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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




24. Mai 2009
Kirsten Reimers
für satt.org

Mordsmäßig26

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Die Grenzen des Verzeihens

Mordsmäßig Folge 26: »Sorry« von Zoran Drvenkar

Noch nicht angekommen, noch auf der Suche, in der Warteschleife. Noch nicht bereit, die Rolle des erwachsenen Kindes gegen Verantwortung und Festlegung zu tauschen. So leben die Brüder Kris und Wolf, die Freundinnen Frauke und Tamara. Alle Ende zwanzig, Anfang dreißig. In Berlin. Aber dennoch muss ja Geld hereinkommen, Gelegenheitsjobs befriedigen auf Dauer nicht. Also gründen die vier Freunde eine Agentur, die einen sehr eigenen Service anbietet.

– Könnt ihr euch vorstellen, was den Leuten da draußen fehlt? (...) Es gibt eine Sache, sagt er [Kris], die die Bosse und Macher vermissen und mit der sie überhaupt nicht klarkommen. Es gibt eine Sache, die wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben hängt und ihnen jeden Tag in ihren Latte macchiato pinkelt. Davor schützt sie kein Reichtum (...).
Kris sieht einen nach dem anderen an. Es ist offensichtlich, dass keiner von ihnen eine Ahnung hat, wovon er spricht. Also streckt Kris ihnen seine rechte Hand entgegen. Handfläche nach oben, wie ein Angebot.
– Sie können sich nicht entschuldigen, sagt er. Und genau das werden wir ihnen anbieten. Entschuldigungen im Überfluß, zu einem verdammt guten Preis.

Die Bitte um Verzeihung. Ein gutes Gewissen für jemanden, den Schuldgefühle drücken. Ein gutes Gefühl für den, dem Unrecht widerfahren ist. Ein angemessenes Honorar für die Agentur. Klingt nach einem guten Geschäft. Eine Win-Win-Situation. Und der Job ist eine Kleinigkeit für die vier Freunde. Denn Kris und Wolf, die „Vertreter des Verzeihens“, finden immer die richtigen Worte, besonders Kris. „Vergebung kennt keine Grenzen“ – so lautet das Motto der Agentur.

Sorry. Wir sorgen dafür,
dass Ihnen nichts mehr peinlich ist.
Fehltritte, Missverständnisse,
Kündigungen, Streit & Fehler.

Wir wissen, was Sie sagen sollten.
Wir wissen, was Sie hören wollen.
Professionell & diskret.

Wie verführerisch: Das schlechte Gewissen, der Druck auf dem Gemüt verschwindet gegen die Zahlung eines entsprechenden Geldbetrags. Mehr muss man nicht machen, um sich wieder besser zu fühlen. Die Agenten des Verzeihens übernehmen die Schuld – ohne innerlich beteiligt zu sein, ohne eine Verantwortung zu tragen – und entsorgen sie. Rückstandsloses Beseitigen unangenehmer Gefühle. So einfach. Und so zynisch.

Innerhalb kurzer Zeit floriert das Geschäft. Der Bedarf an Entlastung ist hoch. Schon bald können sich die vier Freunde eine alte Villa am Kleinen Wannsee leisten. Alles läuft wunderbar – bis jemand ihre Dienste in Anspruch nimmt, der eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen hat. Er verlangt, dass die Agentur sich bei Menschen entschuldigt, die er kurz zuvor getötet hat. Indem er droht, ihren Familien etwas anzutun, zwingt er Kris, Frauke, Wolf und Tamara, die Leichen zu beseitigen. Immer tiefer verstricken sich die vier in ein komplexes Netz aus Schuld und Lügen. Immer unentrinnbarer geraten sie in etwas, dass sie nicht kontrollieren können.

Zoran Drvenkar ist vor allem für seine Kinder- und Jugendbücher bekannt. Aber er schreibt auch anderes, zum Beispiel das Drehbuch zu „Knallhart“, 2006 verfilmt unter der Regie von Detlev Buck. Und nun „Sorry“. In unprätentiöser Sprache wird die komplexe Handlung aus mehreren Perspektiven geschildert. Neben mehreren personalen Erzählperspektiven gibt es ein „Ich“, ein „Du“ und einen arrangierenden Erzähler. Das Geschehen spielt auf drei Zeitebenen: „davor“, „dazwischen“, „danach“. Das hätte schnell aufgesetzt und gespreizt wirken können. doch Drvenkar behält den Überblick und die Balance. Seine Figuren führt er souverän. Er lässt die unterschiedlichen Stimmen konsequent ihr Erleben schildern, dadurch klären sich nach und nach die Zusammenhänge und Sichtweisen.

Schuld oder Unschuld, gut oder böse, Täter oder Opfer – das ist in diesem Thriller nicht ganz einfach und offensichtlich verteilt. Menschen laden Schuld auf sich, indem sie handeln, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Aus Unbedachtsamkeit, aus Kurzsichtigkeit, aus Egoismus. So der Täter vor vielen Jahren, so heute die vier Freunde mit ihrer Agentur. In einer Gesellschaft, die immer mehr outsourced, in der Verantwortung auf das Selbst und das eigene Einkommen beschränkt ist, ist die Geschäftsidee der Agentur nur systemlogisch. Ebenso der nachfolgende Erfolg. Doch was es wirklich heißt, die Übernahme von Schuld gegen Geld zu versprechen – so weit hat niemand gedacht. Die moralischen Konsequenzen des Handelns, die Hybris dieses Ablasshandels, das wird hinter den lukrativen Verdienstchancen vergessen. Auch dies durchaus systemlogisch. Bis jemand einen Schritt weiterdenkt – und es passiert, was passieren muss.

Drvenkar ist mit „Sorry“ einer der sehr seltenen spannenden und komplex durchdachten deutschen Thriller gelungen. Ebenso ein Beispiel, wie fatal es sein kann, die Ethik des eigenen Handelns nach der Höhe des Kontostands zu bemessen – und ein Kommentar, wie der Neoliberalismus die Werte und Maßstäbe des Einzelnen unbewusst verschieben kann.



Zoran Drvenkar: Sorry
Ullstein Verlag 2009
398 Seiten, 19,90 Euro
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