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18. Juli 2011 | Kirsten Reimers für satt.org |
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6501 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 Tatenlose Voyeure? Am 13. März 1964 wurde die 28-jährige Catherine Genovese, Kitty genannt, in Kew Gardens, einem beschaulich-bürgerlichen Teil des New Yorker Stadtbezirks Queens, nachts zwischen drei und vier Uhr überfallen, vergewaltigt und schließlich erstochen. Ihre Qual dauerte über eine halbe Stunde; mehrfach rief sie um Hilfe, doch niemand reagierte – obwohl es mindestens zwölf Augen- bzw. Ohrenzeugen gab. »Bystander-Effect« wird dieses Phänomen genannt – oder seit 1964 – Genovese-Syndrom. Schon damals nicht neu und auch heute keine Seltenheit. Zwei Bücher, die (zufällig?) zeitgleich bei uns in zwei verschiedenen Verlagen erschienen sind, nähern sich auf je unterschiedliche Weise diesem tatsächlich geschehenen Mord.
Tödliches Wegschauen Didier Decoin hält sich in »Der Tod der Kitty Genovese« recht eng an die Fakten. Er lässt überwiegend einen fiktiven Nachbarn berichten (»Das Wort hat Nathan Koschel«), der erst nach der Tatnacht nach Hause kommt und nun über den (historischen) Journalisten Martin Gansberg sowie während der Gerichtsverhandlung die Einzelheiten des Mordes erfährt. Mit Nathan Koschel ist man als Leser Beobachter des Prozesses und der Zeugen. Dadurch bleibt stets eine wachsame Distanz, die weder ins Voyeuristische noch in moralisierende Betroffenheitsduselei abgleitet. An keiner Stelle versucht Decoin, das Verhalten des Täters oder die Tatenlosigkeit der Zeugen zu erklären. Er beobachtet, er beschreibt, aber er wertet nicht. Lediglich an einigen wenigen Stellen wird es etwas rührselig, wenn Decoins Erzähler überlegt, was Kitty Genovese sich wohl vom Leben gewünscht hätte – doch das passt zur Figur des etwas ältlichen Nathan Koschel und tritt nur punktuell auf. Sehr viel nachhaltiger beeindruckt die distanzierte Art, wie Decoin sich dem Geschehen nähert. Für ihn war es kein Einzelfall von überraschender Ignoranz und individuellem Augenschließen. Im Nachwort verweist Decoin auf die sozialpsychologischen Studien von Stanley Milgram, Bibb Latané und John M. Darley, die zu dem Ergebnis kommen, dass Menschen in Notsituationen immer dann tatenlos bleiben, wenn weitere Menschen anwesend sind – die Verantwortung wird weggeschoben: Einer von den anderen wird sich schon kümmern. Täter wie Zeugen sind einander in ihrer Kälte, ihrer Unfähigkeit, Mitgefühl mit dem Opfer zu entwickeln, sehr ähnlich.
Zu beschäftigt für den Tod Ganz anders dagegen bei Ryan David Jahn. Er schaut in seinem Buch »Ein Akt der Gewalt« in seine Figuren hinein, er ist ihnen nah, kennt ihre Gefühle und Gedanken, spürt ihren Ängsten und Verunsicherungen nach. Anders als Decoin verfremdet Jahn die Figuren ein wenig: Kitty Genovese heißt bei ihm Katrina Marino, und sie ist auch nicht lesbisch. Der Täter ist nicht wie in der Realität ein Schwarzer – unauffälliger Angestellter und Familienvater –, sondern ein Weißer, noch dazu grobschlächtig mit verstopften Gesichtsporen. Vor allem aber gibt Jahn den Augen- und Ohrenzeugen Namen, Gesichter und Geschichten. Er schildert, was ihnen in dieser Nacht widerfährt – denn seine Zeugen erleben ihre eigenen Dramen, während Katrina vor ihren Fenstern vergewaltigt und erstochen wird: Da brechen Ehen auseinander, Sterbehilfe wird geleistet, Homosexualität wird bekannt, ein Sohn fasst den Entschluss, als Soldat nach Vietnam zu gehen, ein korrupter Polizist vertuscht ein Verbrechen, das er begangen hat. Es ist ein Blick in die US-amerikanische Mittelschicht Mitte der sechziger Jahre, die in Bewegung gerät und ihre Ankerpunkte verliert: neue Freiräume, die auch neue Unsicherheiten mit sich bringen, Prüderie neben sexueller Freizügigkeit, alte Zwänge und tief verwurzelte Vorurteile, Rassenhass und Chauvinismus. Die Zeugen erleben derart lebensumbrechende Gefühlsstürme, dass ihnen kaum Platz bleibt, das Geschehen vor ihren Fenster zu registrieren. Und letztlich ist auch Katrina Marino nur eine von mehreren, deren Leben in dieser Nacht eine radikale Wende nimmt. Ein komplett anderer Ansatz als bei Decoin also. Und mit einer versöhnlichen Geste am Ende. Es scheint, als hätte es der Autor – dieses Buch ist Jahns Debüt – nicht ertragen, dass Menschen so kalt und ignorant sein können, es scheint, als hätte er unbedingt Erklärungen und Entschuldigungen für ihre Tatenlosigkeit finden müssen. Und dank eines fürsorglichen Sympathieträgers, der nur leider zu spät kommt (weil der korrupte Cop ihn unschuldig verhaftet hat), legt man als Leser das Buch mit der trügerischen Gewissheit aus der Hand: Letztlich ist der Mensch an sich doch gut – wenn ich nachts um Hilfe schreie, wird schon einer die Polizei rufen. Und das macht diesen Roman im Vergleich zu dem von Decoin banal, feige und verlogen.
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