Sprache und Dialekt
Ein Volk,
legt es in Ketten,
plündert,
knebelt es,
und es ist immer noch frei.
Nehmt ihm die Arbeit,
den Reisepaß,
den Tisch, an dem es ißt,
das Bett, in dem es schläft:
es ist immer noch reich.
Ein Volk
wird arm und unterwürfig,
wenn man ihm die Sprache
seiner Väter raubt:
dann ist es für immer verloren.
Arm und unterwürfig wird es,
wenn die Worte keine Worte mehr zeugen
und sie einander aufessen.
Das merke ich jetzt,
während ich die Gitarre des Dialekts stimme,
die täglich eine Saite verliert.
Während ich den mottenzerfressenen
Stoff ausbessere,
den die Vorfahren woben
aus der Wolle sizilianischer Schafe.
Und ich bin arm:
ich habe Geld,
das ich nicht ausgeben kann,
Juwelen,
die ich nicht verschenken kann.
Ich singe
im Käfig
mit abgeschnittenen Flügeln.
Ein Armer,
der an der trockenen Brust
der vermeintlichen Mutter saugt,
die ihn Sohn nennt
im Scherz.
Wir hatten einer Mutter,
man hat sie uns geraubt.
Ihre Brust war ein Milchquell,
alle tranken davon;
jetzt spucken sie darauf.
Geblieben ist uns ihre Stimme,
der Rhythmus,
der Grundton
des Klagegesangs:
die können sie uns nicht rauben.
Sie können sie uns nicht rauben,
aber wir bleiben Waisenkinder
und arm.
Lingua e dialettu
Un populu
mittitilu a catina
spughiatilu
attuppatici a vucca
è ancora libiru.
Livatici u travagghiu
u passaportu
a tavula unnu mancia
u lettu unnu dormi,
è ancora riccu.
Un populu
diventa poviru e servu
quannu ci arrubbanu a lingua
addutata di patri:
è persu pi sempri.
Diventa poviru e servu
quannu i paroli non figghianu paroli
e si mancianu tra d’iddi.
Mi nn’addugnu ora,
mentri accordu la chitarra du dialettu
ca perdi na corda lu jornu.
Mentre arripezzu
a tila camuluta
ca tissiru i nostri avi
cu lana di pecuri siciliani.
E sugnu poviru:
haiu i dinari
e non li pozzu spènniri;
i giuelli
e non li pozzu rigalari;
u cantu
nta gaggia
cu l’ali tagghiati.
Un poviru
c’addatta nte minni strippi
da matri putativa,
chi u chiama figghiu
pi nciuria.
Nuàtri l’avevamu a matri,
nni l’arrubbaru;
aveva i minni a funtana di latti
e ci vìppiru tutti,
ora ci sputanu.
Nni ristò a vuci d’idda,
a cadenza,
a nota vascia
du sonu e du lamentu:
chissi non nni ponnu rubari.
Non nni ponnu rubari,
ma ristamu poviri
e orfani u stissu.
(Aus: Lingua e dialettu, 1970)
(Übertragen von Leopold Federmair)
Die Stimmen der Menschen
Für Leonida Répaci
Wie viele Straßen und Länder
und Städte ich kenne
und wie viele Züge,
die kommen und gehen;
wie viele Gesichter von Frauen
und Männern
und Kindern, die grüßen
und der Zug fährt vorbei,
und die Wäsche auf der Leine
und die Knoblauchzöpfe am Fenster.
Wie lange Wege
mit schmerzenden Füßen,
wie viele Rasten
auf Stühlen aus Stein
mit dem Jausenbeutel auf den Knien
und den Kindern,
die kommen und schauen
wissen wollen, wer ich bin.
Wie viele Nächte und wie viele Male
das Geld gezählt,
danach gegraben
mit den Händen in den Taschen
und die Schatten der Menschen
und die verriegelten Türen
und das Herz, das hinschmilzt wie Wachs.
Wie viele Nächte und wie viele Male
um ein Bett gebeten,
die Papiere gezeigt
und da sitzt eine dicke, rauchende Frau,
mit übereinandergeschlagenen Beinen,
die mir zulächelt
mit eingezogenem Hals;
und dann das dunkle Zimmer,
der abgestandene Geruch,
das Bett, das jeden Abend einem anderen gehört
und die Leintücher, die stinken
nach sich reibenden Leibern.
Wie viel Rauch in diesen Räumen,
mit den blinden Gedanken,
die gegen die Mauern schlagen
und an der Decke kleben bleiben.
Wie viel Rauch;
und ich küsse meine eigenen Hände,
umfange mich selbst
um mich selber zu spüren,
rufen zu hören: Ignazio, Ignazio!
um nicht alleine zu sein.
Wie viel Rauch,
und das Herz naß und aufgeweicht
wie das Weiße vom Brot.
Wie viele Nächte
mit Augen, zugenäht und aufgetrennt,
und dem Schlaf, der in Sturzwellen kommt
mit der Kraft eines Stiers.
Wie viele Nächte und wie viel Rauch;
und dann, zum Morgengrauen,
die ersten Lichtfäden
der Wind, der das Zelt bewegt
das Singen der Vögel,
die Stimme der Menschen.
Und ich stehe auf
mit der Stimme der Menschen.
Li vuci di l’omini
A Leonida Répaci
Quantu strati e paisi
e citati canusciu
e quantu treni
a scìnniri ed acchianari;
quantu facci d’omini
di fimmini
di picciriddi chi salutanu,
e lu trenu chi passa
e li robbi stinnuti
e li trizzi di l’agghia a la finestra.
Quantu strata
cu li pedi chi dòlinu,
quantu mpinciuti
supra sidili di petra
cu l’ammogghiu vicinu
e li carusi
ca passanu a taliari
pi capiri cu sugnu.
Quantu notti e quantu voti
cuntari li picciuli
cu la manu
nni la sacchetta affunnata,
e l’umbri di l’omini
e li porti nzirrati
e lu cori chi squagghia comu cira.
Quantu notti e quantu voti
dumannari un lettu,
projri li carti
e ddà na fimmina grassa ca fuma
cu li gammi a cavaddu
e mi ridi
arrunchiannu lu coddu;
e poi la càmmara scura,
lu tanfu di nchiusu,
lu lettu c’havi un patruni ogni sira
e li linzola ca fètinu
di carni stricati.
Quantu fumu nni sti càmmari,
cu li pinzeri orbi
ca truzzanu a li mura
e restanu mpinnuliati a lu tettu.
Quantu fumu;
e io a vasarimi li manu,
ed abbrazzarimi
pi sintirimi strinciri,
a chiamarimi: Gnaziu, Gnaziu,
pi nun essiri sulu.
Quantu fumu,
e lu cori assuppatu
comu muddica di pani vagnata.
Quantu notti
cu l’occhi cusuti e scusuti
e lu sonnu c’arriva a marusi
cu la forza d’un tàvaru.
Quantu notti e quantu fumu;
e poi l’arba
li primi fila di luci
lu ventu c’arrimina lu purtali
lu cantu di l’acceddi,
li vuci di l’omini.
Ed iu mi susu
cu li vuci di l’omini.
(Aus: La peddi nova, 1963)
(übertragen von Theresia Prammer)
© Giovanni Giovannetti/effigie
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Ignazio Buttita wurde 1899 in Bagheria (Sizilien) geboren und starb 1997 in seinem Geburtsort. Buttitta nahm am ersten Weltkrieg teil und trat der sozialistischen Bewegung bei. Neben der Aushilfe im Lebensmittelgeschäft seiner Eltern, beginnt er in den frühen 20er Jahren Gedichte in seiner Muttersprache Sizilianisch zu schreiben. Sein erster Band, Sintimintali, erschien 1923 in Palermo, nach dem Erscheinen des zweiten Bandes, Marabedda (Palermo, 1928), zog Buttitta aus beruflichen Gründen nach Mailand. Während des 2. Weltkriegs aufgrund seiner antifaschistischen Haltung in Mailand nicht mehr geduldet, trat er der „Resistenza“ bei, wurde verhaftet und fast verurteilt. Er kehrte zurück nach Mailand, wo er Kontakt zu anderen Schriftstellern mit sizilianischen Wurzeln pflegte, z.B. Elio Vittorini, Salvatore Quasimodo oder Renato Guttuso. Weitere wichtige Gedichtbände, u.a.: Lu pani si chiama pani (Rom, 1954), La peddi nova (Mailand, 1963), Il poeta in piazza (Mailand, 1974), Le pietre nere (Mailand, 1983). Für seinen Band Io faccio il poeta (Mailand, 1972) erhielt Buttitta den Premio Viareggio. Auch Autoren wie Leonardo Sciascia oder Pier Paolo Pasolini schätzten den für die Bewahrung des Sizilianischen eintretenden Schriftstellerkollegen.
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Leopold Federmair über Ignazio Buttita:
Pier Paolo Pasolini stellt die – wie man einst sagte – sozial engagierten Dichtungen von Ignazio Buttita in die Nachbarschaft des russischen Suprematismus und des sozialistischen Realismus. Der sizilianische Dialektdichter und der aus dem Friaul, als Filmregisseur eine Weltberühmtheit, schätzten einander, und wenn Pasolini anmerkt, sein Freund und Kollege habe sich gern auf kommunistischen Tribünen bewegt, so ist dies keineswegs als Schelte gedacht, auch wenn ein leiser Vorbehalt mitschwingen mag. Tatsache ist, daß der 1899 geborene Buttita als halbes Kind im ersten Weltkrieg kämpfen mußte, und Tatsache, daß ihn die Oktoberrevolution mächtig beeindruckte, wie so viele andere auch (zum Beispiel den im selben Jahr geborenen, damals in Genf lebenden Jorge Luis Borges, dessen frühe Verse, die Roten Rhythmen, man ebenfalls suprematistisch nennen könnte). Tatsache ist, daß Buttita gegen das faschistische Regime aufbegehrte, und Tatsache, daß seine antifaschistischen Gedichte in der kommunistischen Monatsschrift Rinascita erschienen und sein erster „überregionaler“ Gedichtband (Lu pani si chiama pani, 1954) vom PCI finanziert wurde. In der Emigration in der Lombardei pflegte Buttita Umgang mit zwei Autoren, die engere Landsleute und Parteimitglieder waren: Elio Vittorini und Salvatore Quasimodo, der einige seiner Gedichte ins Italienische übersetzte.
Salvatore D’Onofrio und Nina Bernardi, zwei Schüler des Anthropologen Antonino Buttita, Ignazios Sohn, unterstreichen in deutlichem Kontrast zu Pasolini das romantische Fundament von Ignazios Dichtung, indem sie den Nachtigallengesang beschwören. Mag sein, daß Pasolinis scharfsichtige Beobachtungen der ureigenen und urtümlichen Musik, die Buttitas Verse aus dem – in nördlicheren Ohren – dunkel klingenden sizilianischen Dialekt beziehen, nicht gerecht werden; daß diesen Bemerkungen etwas fehlt, das er, Pasolini, in seinem Todesjahr (1975), als er die letzten verbitterten Freibeuterschriften ins Publikum warf, nicht mehr zu hören – oder zu benennen? - vermochte, obwohl er, wie er sagte, zu seinem eigenen Dialekt und damit zu seinen poetischen Ursprüngen zurückgekehrt war.
(In Vorbereitung: Pier Paolo Pasolini, Über den sizilianischen Dialektdichter Ignazio Buttita, Salzburg, Tartin Editionen 2010, hrsg. und übersetzt von Leopold Federmair.)