Ein Flüstern
Ich sage nicht das Paradies, das wäre zuviel des Guten,
du stirbst und wanderst direkt ins Paradies, ich bitte dich,
so läuft es doch nicht, das wäre eine Anmaßung,
das Fegefeuer, ja, genau,
das wäre nach meinem Geschmack, das Fegefeuer,
das kommt einem nur so vor,
aber so ist es nicht, die Leute halten es für einen
Wartesaal, das Fegefeuer,
aber da wirst du wirklich weggefegt, das ist nicht witzig,
es ist nicht die Hölle, sicherlich,
aber die Hölle, Jungs,
wenn ich mir denke das Fegefeuer gäbe es nicht,
nur Paradies und Hölle
und sagen höre: in der Hölle ist man unter sich,
und im Paradies, möchte ich dann sagen, wie viele sind da unter sich?
Noch weniger, aber gibt es das Paradies?
Aber wenn es sich so verhält,*
sollte man wohl besser schweigen, holla, wenn Don Primo mich hört,
wie, das Paradies gibt es nicht? Ich meine nur,
das sagt man so, es ist halt so eine Welt,
die unsrige, und solche Dinge kommen vor,
auch wenn sie schließlich
nicht, ach komm, wir sind nicht alle Delinquenten,
es gibt ja auch gute Menschen,
es gibt auch anständige Leute,
aber ich, nein, meine Angst,
die Angst, das spukt mir schon länger im Kopf herum,
wenn du vor etwas Angst hast,
Angst das bedeutet, daß da etwas ist,
und wär’ es auch die Hölle, das ist doch etwas, oder nicht?
das Angst macht, doch es ist eine,
wie soll man sagen, ja, begründete Angst,
ein Signal, wie wenn auf dem Bahnhof
die Glocke läutet, und was heißt das
die Glocke? Daß der Zug gerade
einfährt, daß es einen Zug gibt,
jetzt aber, wo ich nachts aufwache,
dann wieder einschlafe, wieder aufwache, das sind so Augenblicke,
aber es ist eine andere Angst, wie wenn man
im Traum hinabstürzt und niemals ankommt,
oder wenn sie dich verfolgen und fast schon erreicht haben und du
läufst und läufst und bleibst immer am Fleck,
die andere ist eine Angst, die dir, in gewisser Weise
auch Gesellschaft leistet, diese nicht,
diese, mit dieser bist du allein,
was tausend Versuchungen mit sich bringt, das geht allen so,
und es sind auch Reden, die dir tausendmal begegnet sind,
die nichts zu sagen haben, alles Lügen, nur daß,
um drei Uhr nachts,
ja nachts verwandeln sich die Dinge,
und erst die Versuchungen, der Teufel kann das,
es ist als wärst du’s selbst, als kämen sie aus dir,
na ja, was wären es denn sonst für Versuchungen?
und dir fällt ein, wie du damals
das Beinhaus gesehn hast, am Friedhof,
ein ganzer Schlafsaal voller Knochen,
Knochen drunter und drüber, ein Knochenberg,
und dann liegst du im Bett und weißt es kann nicht wahr sein,
und am Morgen darauf denkst du nicht mehr daran,
denn tagsüber ist die Welt eine andere,
die Sonne ist da, die Kälte, der Mantel, die Mütze, der Schal,
der Cappuccino mit Schaum, und du mußt weiter,
an so viele Orte, begegnest einem armen Kerl,
gibst ihm was ab,
doch in jenem Augenblick,
ja, da ist ein Augenblick, im Dunkel, wo nur du alleine bist,
und du bildest dir ein, eine Stimme zu hören, jemand
flüstert dir leise zu:
es gibt nicht einmal die Hölle, es gibt überhaupt nichts.
* Kursiv gesetzte Verse im Original Italienisch (Hochsprache).
(übertragen von Theresia Prammer)
Un susórr
A n dégg e’ paradéis, ch’e’ sarébb tròp,
t mór e t vé drétt in paradéis, dài, zò,
u n s pò, l’è una pretàisa,
e’ purgatóri, ècco,
mè la m’andrébb da sgnòur, che e’ purgatóri,
e’ pèr acsè,
mo u n’è mégga, la zénta i cràid ch’e’ séa
una sèla d’aspèt, e’ purgatóri,
ta t péurgh dabón, la è gnara,
u n’è l’inféran, zért,
che l’inféran, burdéll,
quant a i péns, s’u n’i fóss e’ purgatóri,
sno paradéis e inféran,
catéiv cmè ch’a sémm tótt,
s’na cativeria instècca, mè dal vólti
ch’a sint a déi: a l’inféran i è póch,
e in paradéis, u m vén da déi, quant’èi?
ancòura minch, mo pu u i è e’ paradéis?
se tanto mi dà tanto,
l’è mèi sté zétt, va là, ch’ s’u m sint don Primo,
cumè, u n gn’è e’ paradéis? mo a géva acsè,
u s fa par déi, l’è un mònd,
quèst, u s vàid ad cal robi,
ènca se pu
u n’è, dài, a n sémm tótt di slabazír,
u i è ’nch’ dla bóna zénta,
ci sono anche le persone oneste,
no, mè, la mi paéura,
che la paéura, in fònd, l’è un pó ch’a i péns,
s’ t’é paéura ad qualquèl,
la paéura e’ vó déi ch’u i è qualquèl,
fóss ènch’ l’inferan, l’è qualquèl, o no?
ch’e’ fa paéura, mo l’è una paéura,
cma s pòl déi? ècco, sè, ch’ la à un fundamént,
l’è un segnèl, l’è cmè quant ma la staziòun
e’ sòuna e’ campanèl, cs’èll ch’e’ vó déi
e’ campanèl? che sta par arivé
e’ treno, ch’u i è un treno,
invíci, parchè adès la nòta a m svégg,
pu a m’indurmént, pu a m svégg, e ò di mumént,
mo l’è un’èlta paéura, l’è cmè quant
t’un insógni t casch e ta n’aréiv mai,
o ch’i t dà dri, che s’i t’aciapa, e tè,
córr córr, t si sémpra alè,
cl’èlta l’è una paéura ch’ t’un zért séns,
la t fa ènca cumpagnéa, quèsta no,
quèsta, t si da par tè,
che pu l’è tentaziòun, al vén ma tótt,
e l’è ’nca zchéurs ch’ ta i é sintí méll vólti,
ch’i n vó di gnént, l’è tótt buséi, sno che,
al tre dla nòta,
che ad nòta al robi al dvénta,
pu al tentaziòun, e’ dièval e’ sa fè,
l’è cmè t fóss tè, cmè ch’al t’avnéss da dréinta,
amo, se no che tentaziòun sarébbal?
ch’u t vén in mént cla vólta, quant t’é vést
l’usèri, te campsènt,
un camaròun pin d’òsi,
òsi purséa, una muntagna d’òsi,
e alè te lèt, che ta l sé ch’u n’è vèrra,
che la matéina dòp ta n’i pens piò,
parchè e’ dè l’è un èlt mònd,
u i è e’ sòul, l’è frèdd, capòt, capèl, scialètta,
capucino sla s-ciómma, t’é d’andè
ad tènt ’d chi póst, t’incòuntar un sgraziéd,
ta i fé la carità,
mo ad che mumént,
quèll l’è un mumént, te schéur, ta i si sno tè,
e u t pèr d’ sintéi ’na vòusa, éun ch’u t déi
pièn, t’un susórr:
u n gn’è gnénca l’inféran, u n gn’è gnént.
(Aus: Intercity, 2003)
Foto © Giovanni Giovannetti/effigie |
Raffaello Baldini, 1924 in Santarcangelo (Romagna) geboren, lebte von 1955 an in Mailand, wo er 2005 starb. Zum Zeitpunkt seines Debüts bereits über fünfzigjährig, dichtete Baldini fast ausschließlich im Dialekt seines Heimatortes Santarcangelo. Von den späten siebziger Jahren bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, entstanden so seine unverwechselbaren und von Anfang an auf nationaler Ebene rezipierten Gedichtbände: E’solitèri (Imola, 1976), La nàiva (Turin, 1982), Furistìr (Turin, 1988), Ad nòta (Mailand, 1995), La nàiva, Furistìr, Ciàcri (Turin, 2000), Intercity (Turin, 2003). Daneben ist Baldini auch Autor eines Bands mit satirischer Prosa – Autotem (Mailand, 1967) – sowie vereinzelter Arbeiten für das Theater: Zitti tutti! (Mailand, 1993) und Canta canta, Zitti tutti!, In fondo a destra (Turin, 1998).
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Daniele Piccini über Intercity:
Die Tragweite von Intercity (2003), einem der wichtigsten Bücher der letzten Jahrzehnte, unabhängig von der Unterscheidung Hochsprache oder Dialekt, liegt eben in der Fähigkeit, mithilfe von klar umrissenen oder peripheren Figuren einen allgemeinen Sinn (oder Nicht-Sinn) in den Blick zu bekommen. [...] Nunmehr haben die Sprecher Baldinis die philosophische Absolutheit angenommen, die dem irrenden Schäfer Leopardis eigen sein könnte oder, uns heute näher, dem zeremoniösen Reisenden von Giorgio Caproni*. Das ändert nichts daran, daß sie nicht aufhören, ihre Erörterungen aus dem Inneren einer klein angelegten und dabei ganz konkreten Wirklichkeit auszusenden, jener des Dorfs und seiner städtischen Ausläufer (Cesena, Rimini), doch alles scheint dem äußersten Grad von Bedeutsamkeit zugeführt. Eben als schlichte, demütige, ein wenig naive Figuren gelingt es diesen Sprechern umso mehr, das Gefühl der Enteignung, der allgemeinmenschlichen (modernen) Unruhe einzufangen. Das Buch enthält einige der Meisterwerke des Dichters, Texte, in denen das ganze Knäuel der menschlichen Handlungen zwischen Leben und Tod wie mit einer Faust zusammengehalten wird. Die wahnwitzige Mutmaßung über das Nichts, das den Menschen nach dem Leben erwartet, wird in Un sussórr zu einer Qual, und zwar mit einer erfahrungsgesättigten Körperlichkeit, die nichts mehr mit trocken philosophischer Dichtung oder Gedankenlyrik zu tun hat. Niemals sind Santarcangelo und Recanati (die Geburtsorte Baldinis und Leopardis, Anm.) so nahe beinandergewesen: wobei Baldini sich erst einen ganzen ärmlichen Dorfschauplatz und eine anekdotische Jargonhaftigkeit aufbauen mußte, um dem nackten Bewußtsein des modernen Menschen angesichts des Grauens vor dem Schicksal (in der ganzen Vielfalt und Heiterkeit der darin lebendigen Erscheinungen) zum Ausdruck zu verhelfen. („Raffaello Baldini“, in der von Piccini herausgegebenen Anthologie: La poesia italiana dal 1960 a oggi, 2005, Übersetzung T.P.)
* Giacomo Leopardis „Canto notturno di un pastore errante dell'Asia“, zwischen 1829 und 1830 entstanden, und Giorgio Capronis „Il congedo del viaggiatore ceremonioso” (1965).